(German) Die Macht der Bilder von 9/11: Zeugen wider Willen

ORIGINAL LANGUAGES, 26 Sep 2011

Constantin Binder – Neue Osnabrücker Zeitung

Eine Wahl hatten wir nicht. Nur, wer vom globalen Informationsangebot bis heute vollständig abgeschnitten ist, wird die Bilder nicht gesehen haben. Wer zu jung oder noch nicht geboren war, hat sie inzwischen gesehen oder wird sie eines Tages sehen. Die meisten aber waren an jenem 11. September 2001 live dabei, als die Türme des World Trade Centers einstürzten, nachdem sie von zwei entführten Flugzeugen getroffen worden waren. Selbst, wer damals nicht in New York war, hat daran keine Zweifel, denn wir alle sind Zeugen geworden dieses schier unglaublichen Angriffs. Den Bildern von 9/11 konnte keiner entkommen, und so haben sie sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt wie kein anderes Ereignis der jüngeren Vergangenheit – genau, wie es die Terroristen wollten.

Tatsächlich geht die Forschung heute davon aus, dass der moderne Terrorismus vor allem eine Kommunikationsstrategie ist, bei der es weniger um die Zahl der Opfer oder den Grad der Zerstörung geht als um die Inszenierung, den symbolischen Akt. Der Erfurter Kommunikationswissenschaftler und Islamkenner Kai Hafez spitzte es einmal so zu: „Auch die Toten von 9/11 waren für Bin Laden nur symbolische Tote, um eine Botschaft abzusenden – so seltsam das klingt.“ Doch damit sie ihre Botschaft verbreiten können, brauchen Terroristen einen Verstärker, einen Mittler: die Medien. Gelernt haben sie diese Strategie von den Staaten, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Fotografie Einzug in die Medien hielt, erkannt hatten, welche Macht die „richtigen“ Bilder haben können. Denn die Bilder, die die Bürger zu sehen bekommen, entscheiden oftmals über Zustimmung oder Ablehnung eines Militäreinsatzes – während sie zugleich der Abschreckung dienen, etwa, indem sie dem Gegner die eigene militärische Stärke vor Augen führen. Und so versuchen Regierungen und Militärs seit je, die Berichterstattung über Kriege, Krisen und Konflikte zu ihren Gunsten zu beeinflussen – mit zwei ausgesprochen wirkmächtigen Instrumenten, der Zensur und der Propaganda.

Doch was sich im klassischen Staatenkrieg der Neuzeit bewährt hat, als Armeen zumindest einigermaßen ebenbürtig aufeinandertrafen, ändert sich seit einigen Jahren. Denn derart symmetrische Kriege werden seltener, stattdessen treten immer häufiger nicht staatliche Akteure wie Söldner, Clans und Warlords kriegerisch in Erscheinung. Die Anschläge vom 11. September sind dabei ein trauriges Paradebeispiel für eine solche asymmetrische Kriegsführung. Denn da den hoch technologisierten, gut gerüsteten USA auf militärischem Wege unmöglich beizukommen ist, wählten die Terroristen einen nicht militärischen Weg – und machten entführte Passagierflugzeuge zu ihren Waffen. Dass sie die USA damit nicht bezwingen konnten, war ihnen von vornherein klar, also musste es aus ihrer Sicht darum gehen, mit den wenigen zur Verfügung stehenden Mitteln den stärksten Effekt zu erzielen: weltweite Panik. Die Medien waren dabei Mittel zum Zweck – Medienlenkung nach den Regeln des Terrors.

Allerdings verbreiteten zumindest die westlichen Medien nicht nur die Botschaft der Terroristen, sondern übernahmen auch fast bedingungslos die Standpunkte der US-Regierung – sei es aus Patriotismus, Bequemlichkeit oder aufgrund der eigenen Nähe und Betroffenheit. So wurde etwa das vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush proklamierte Schlagwort „War on Terror“, Krieg gegen den Terror, von nahezu allen westlichen Medien umgehend unhinterfragt verwendet – obwohl es im Grunde ein lupenreiner Propagandabegriff war.

Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung, der in mehr als 100 Konflikten als Vermittler oder Berater tätig war und mit dem alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, hält solche Reflexe für äußerst problematisch. Der 80-Jährige hat die weltweite Berichterstattung nach 9/11 untersucht und festgestellt, dass die Medien sich fast ausschließlich auf die Beschreibung der Gewalt beschränkten. Eine Theorie, warum es überhaupt zur Gewalt kam, fehlte ihm zufolge ebenso wie Lösungsvorschläge. Galtung aber plädiert dafür, zu hinterfragen, was hinter den Anschlägen steckt: „Entweder ist es ein ungelöster Konflikt, dann sollten wir eine Konfliktlösung finden. Oder es ist Rache für ein Trauma in der Vergangenheit, dann sollten wir uns um Versöhnung bemühen.“

Doch wie können die Medien den Terror so abbilden, dass Leser, Zuschauer oder Zuhörer ihn richtig einordnen können? Galtung hat dafür „vier ganz einfache Regeln“: „Sie sollten erstens versuchen zu verstehen, welcher Konflikt dahintersteckt. Sie müssen zweitens erkennen, dass ‚die Wahrheit’ immer zweideutig ist, weil jede Seite unterschiedliche und widersprüchliche Motive hat. Drittens dürfen sie sich nicht nur auf die Eliten, die Entscheidungsträger beschränken, sondern müssen auch die Auswirkungen auf die einfachen Leute hinterfragen. Und viertens sollten sie nicht nur über Siege, sondern auch über Lösungen schreiben.“

Die Medien ohne ihre Nutzer zu betrachten griffe allerdings zu kurz, und so schwingt in Galtungs Forderungen auch ein Appell an alle anderen Akteure mit – Politiker wie Rezipienten. Die Allgegenwart der Bilder des 11. September ist so gesehen auch eine Mahnung, stets zu hinterfragen, wer an diesem denkwürdigen Tag was sagen wollte. Das ist keine einfache Frage. Und die Antwort steht seit zehn Jahren aus.

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