(Deutsch) Weshalb ein überstürztes Eingreifen in Syrien falsch ist

ORIGINAL LANGUAGES, 7 Dec 2015

Deutschen Fachschaften Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg – TRANSCEND Media Service

eine Antwort der deutschen Fachschaften Friedens- und Konfliktforschung auf das Vorhaben des Militäreinsatzes der Bundesregierung.

Die deutschen Fachschaften der Friedens- und Konfliktforschung verurteilen den Vorstoß der Bundesregierung zu einem vorschnellen und unüberlegten Militäreinsatz im Syrienkonflikt. Wissenschaftler*innen der Friedens- und Konfliktforschung verweisen regelmäßig auf den komplexen Konfliktkontext Syriens auf lokaler und internationaler Ebene, der vielschichtige Lösungsansätze benötigt. Dennoch will die Bundesregierung auf eine vereinfachende und alleinig militärische Lösung zurückgreifen, die dem Konflikt nicht annähernd gerecht wird und verheerende Folgen nach sich ziehen würde. Damit zieht Deutschland aus falsch verstandener Solidarität in einen Krieg, in dem verschiedene Akteur*innen geostrategische Machtinteressen auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung auskämpfen. Die Unterzeichner*innen dieses Aufrufs fordern die Bundesregierung und das Parlament auf, keine Beschlüsse ohne eine umfassende öffentliche Debatte zu fällen und auf ein überstürztes militärisches Eingreifen in Syrien zu verzichten.

Der Komplexität des Konflikts gerecht werden

Syrien ist ein Land mit hochkomplexer Problemlage und diffusen Fronten. Zahlreiche Splittergruppen kämpfen seit Jahren im Bürgerkrieg. Sie verfolgen äußerst unterschiedliche Interessen und werden von verschiedenen Großmächten unterstützt, die aus strategischen und geopolitischen Interessen Waffen in Milliardenhöhe in die Region liefern. Machtkämpfe des überwiegend sunnitischen Saudi-Arabien mit dem mehrheitlich schiitisch geprägten Iran sind dabei von ebenso großer Bedeutung wie das russische, amerikanische und europäische Streben nach Einfluss in der Region, ganz abgesehen von Zielen der Türkei und kurdischer Gruppierungen.

Konfliktforscher*innen, und andere Wissenschaftler*innen, die seit Jahren zu der Region arbeiten, sehen durch die vielfältigen Verstrickungen keinen einheitlichen, und schon gar keinen einfachen Lösungsweg für die Probleme. Bei allen verschiedenen Sichtweisen und fachlichen Diskussionen ist jedoch eines immer klar: Das Land aus vermeintlicher Solidarität gegenüber Frankreich strategielos zu bombardieren, wird keine Probleme lösen – weder den Konflikt in der Region noch die internationale Bedrohung durch Terroranschläge. Aufklärungsflüge durch deutsche Tornado-Kampfjets sind nicht weniger Teil eines Kampfeinsatzes, nur weil sie keine Bomben abwerfen.

Der selbsternannte „Islamische Staat“ ist erschreckend, gleichzeitig aber nur eine Manifestierung der vorherrschenden Problemlage. An deren Ursachen haben nicht zuletzt auch westliche Staaten ihren Anteil – durch Waffenlieferungen, Unterstützung despotischer Regime und Destabilisierung fragiler Gleichgewichte, beispielsweise im Irak. Zweifellos ist es dringend notwendig, sich politisch und wissenschaftlich ernsthaft mit dem „IS“ auseinanderzusetzen und gegen ihn vorzugehen. Aber es ist fatal, die Selbstinszenierung der Terrororganisation als eine Inkarnation des Schreckens einfach zu übernehmen und als Reaktion auf die Bedrohung in einen Krieg zu ziehen, der die komplexen Machtverstrickungen vollständig ignoriert. „Der Westen“ gegen „den Islam“: Diese viel zu vereinfachenden Kategorien des „Kampfs der Kulturen“ beschwören gefährliche Fronten herauf, mit denen die politischen Akteure der Strategie des „IS“ direkt in die Hände spielen. Zudem ist nicht nur die völkerrechtliche Grundlage des Einsatzes höchst umstritten, sondern es mangelt – ähnlich wie beim Irak-Krieg – an einem eindeutigen Mandat der Vereinten Nationen.

Nicht nur der „IS“ richtet in Syrien ein Blutbad an, sondern auch das Assad-Regime, das seine Bevölkerung mit Bombenangriffen terrorisiert und für viele Syrer*innen zentraler Fluchtgrund ist.

Seit Beginn der gewaltsamen Unterdrückung friedlicher Proteste in Syrien vor vier Jahren rufen Zivilist*innen die internationale Gemeinschaft um Schutz und Hilfe an. Aber auch nach Giftgaseinsätzen und Fassbomben ist kaum etwas passiert. Erst jetzt, da sich ganz Europa existenziell bedroht sieht, stürzt sich Deutschland Hals über Kopf mit militärischem Engagement in die Region. Nicht abschließend geklärt ist jedoch, welche der heterogenen Akteure Verbündete und welche Gegner sind oder was passieren soll, wenn die Stellungen des „IS“ zerstört sind. Völlig unklar ist z.B., wie sich Deutschland gegenüber Assad verhält. Stellten sich die Interventionstruppen einseitig auf die Seite des schiitischen Regimes, würde dies die ideologische Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten höchstwahrscheinlich weiter anheizen und mehr Menschen aus Angst vor Unterdrückung radikalisieren. Davon würde nicht zuletzt auch der „IS“ profitieren.

Für eine öffentliche Debatte

Die Bundesregierung sieht sich außerstande, Fragen nach ihrer Strategie zu beantworten. Stattdessen peitschen sie den Militäreinsatz in drei Tagen durch das Parlament, so dass keine Zeit zum Abwägen und Kalkulieren von Risiken oder zum Protestieren bleibt. Damit setzt sie de facto den historisch begründeten und verfassungsmäßig verankerten Parlamentsvorbehalt außer Kraft: der Bundestag hat bei Militäreinsätzen immer das letzte Wort. Die öffentliche Debatte muss Bedingung jeglichen militärischen Handelns sein. Doch dies scheint hier bewusst übergangen zu werden. Dabei kommt der Bundesregierung die diskursive Verknüpfung der Debatten über „Flüchtlingsströme“ und terroristische Sicherheitsbedrohungen zu Gute.

Wie u.a. die Kriege im Irak, in Afghanistan und die militärische Intervention in Libyen gezeigt haben, kann durch panische militärische Kurzschlussreaktionen kein Frieden geschaffen werden. Die deutsche Zivilbevölkerung hat kaum Zeit zu reagieren. Im Gegensatz zu den Kriegsvorbereitungen im Kosovokonflikt, dem Einsatz in Afghanistan und dem 3. Irakkrieg sind die kritischen Stimmen in diesem Konflikt sehr schwach.

Welche Ziele, welche Mittel?

Geht es bei dem Einsatz tatsächlich um eine Verringerung der Terrorgefahr und das Wohl der syrischen Zivilbevölkerung? Wieso wird dann nicht versucht, dem „Islamischen Staat“ die finanzielle Grundlage zu entziehen? So könnte z.B. der Ölschmuggel über die türkische Grenze bekämpft oder Waffenlieferungen an Staaten, die den IS unterstützen, unterbunden werden. Weshalb stehen nicht Maßnahmen zum Schutz der syrischen Bevölkerung an oberster Stelle?

In den vergangenen Wochen wurde immer wieder diskutiert, dass der Terror, der jetzt Paris getroffen hat, seinen Ursprung auch hier hat. Menschen, die sich im westeuropäischen Kontext radikalisieren und dem IS anschließen zeigen auf, dass der Fokus auf militärische Interventionen im Ausland und die Logik des Krieges entscheidende Komponenten außer Acht lässt. Soziale Ausgrenzung und fehlende Lebenschancen, die bestimmte Menschen strukturell an den Rand der Gesellschaft drängen, müssen direkt hier von Seiten der europäischen Gesellschaften und ihren Regierungen als Ursache für terroristische Anschläge in Betracht gezogen und bearbeitet werden. Konfliktprävention in Deutschland und Europa ist demnach ein Faktor, der bei der aktuellen Fokussierung der Bundesregierung in Vergessenheit gerät.

Kein überstürztes militärisches Eingreifen!

Solidarität mit den Opfern der Anschläge in Paris kann nicht durch Bombardements erreicht werden. Solidarität mit Frankreich darf auch nicht bedeuten, die Lage der Zivilbevölkerung in Syrien zu verschlimmern, indem den Bündnispartnern unüberlegt in den Krieg gefolgt wird. Unter Bombardierungen leiden in erster Linie immer Zivilist*innen.

Die Fachschaften der Studiengänge für Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland sind empört und bestürzt über die unvorbereitete und kontraproduktive militärische Reaktion Deutschlands.

Wir fordern die Bundesregierung und alle Abgeordneten des Parlaments auf, keine Beschlüsse ohne eine umfassende öffentliche Debatte zu fällen und auf ein überstürztes militärisches Eingreifen in Syrien zu verzichten!

Unterzeichner*innen

(wenn Sie diese Erklärung auch unterzeichnen wollen, benutzen Sie bitte das untenstehende Formular):

Fachschaft Friedens- und Konfliktforschung, Philipps-Universität Marburg

Fachschaft Politik, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Studierende ISFK, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Fachschaft Gesellschaftswissenschaften (FB03), Goethe-Universität Frankfurt am Main

Studierende der Friedens- und Konfliktforschung, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

PD Dr. Anne Maximiliane Jäger-Gogoll, Zfk, Philipps-Universität Marburg

PD Dr. Johannes M. Becker, Zfk,  Philipps-Universität Marburg

Prof. Dr. Ulrich Wagner, ZfK, Philipps-Universität Marburg, Sozialpsychologie

Melanie Hartmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfK, Philipps-Universität Marburg

Dr. h.c. Hans-Christof Graf von Sponeck, Beigeordneter UN General-Sekretär a.D.

Kerstin Müller, Berlin, Absolventin Master Friedens- und Konfliktforschung Marburg 2011

Netali Kidane,

Lina Westermann

Lena Feldhaus

Ines Gast

Daniel Katz

Leonhard Schwiersch

Matthias Weigold

Svenja Lene Hansen

Thomas Duveau

Peter Babnik

Benno Malte Fuchs

Svenja Eckstein

Jennifer Back

Dr. Thomas Nielebock, Institut für Politikwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Flora Cammerlander,

Jan Berf, Köln, Studierender der Regionalstudien Lateinamerika, Uni Köln

Lara Heckmann

Johanna Hauf, Studentin MA Friedens-& Konfliktforschung, Eberhard-Karls Universität Tübingen

Luisa Jooß, Studentin MA Friedensforschung & int.Politik, Eberhard-Karls-Universität, Tübingen

Niklas Bokeloh,

Nadine Moritz, Studentin MA Friedensforschung & int.Politik, Eberhard-Karls-Univ., Tübingen

Susann Zetzsche, Bonn, Absolventin der Regionalwissenschaften Lateinamerika (Dipl.)

Sofia Casarrubia

Silvana Frank

Wiebke Nordenberg, Studentin Friedensforschung und Internationale Politik in Tübingen

Isabelle Glaubitt

Christina Walz

Lisa Walter, European Master in Migration and Intercultural Relations, Oldenburg

Prof. Dr. Thorsten Bonacker, ZfK, Philipps-Universität Marburg

Prof. Dr. Jana Hönke, ZfK, Philipps-Universität Marburg

Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel, ZfK, Philipps-Universität Marburg

Dr. Kristina Roepstorff, FuK, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Anna Wawra,

Isabel Kerber,

Rebecca Richter,

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Submitted by TRANSCEND member Benno Fuchs.

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